Kapitel 1
Immer häufiger ertappte sich Peter Völkers dabei, an seinen Ruhestand zu denken. „Bin ich wirklich schon vierzig Jahre Lehrer?“, sinnierte er und nahm sich vor, endlich einen Antrag bei der Landesschulbehörde zu stellen, um sich die Höhe seiner Pension ausrechnen zu lassen. Es fiel ihm zunehmend schwerer, morgens aufzustehen und sich in die Schule zu quälen. Das nervtötende Rasseln der alten Pausenglocke riss den Studienrat aus seinen trüben Gedanken. Die graue Langeweile des Lehrerzimmers drang wieder in sein Bewusstsein. Als die Glocke verstummte und sich stattdessen prompt sein Tinnitus zurückmeldete, stand er ärgerlich auf, räumte die leere Kaffeetasse weg und machte sich auf den Weg in seine Klasse. Er kam nicht weit.
„Guten Morgen Kollege!“ Die Tür zum Lehrerzimmer wurde schwungvoll aufgestoßen und Walter Holzmann, Schulleiter und Völkers‘ Chef, stand mitten im Raum und wedelte mit einen Umschlag. Völkers zuckte zusammen, wenn er selbst ins Lehrerzimmer kam und ihn nicht in sein Büro bestellte, musste es etwas Besonderes sein. „Herr Völkers, ich habe hier ein Schreiben für Sie, kommen Sie doch bitte in der nächsten Pause zu mir.“ „Was will dieser alte Karrierist von mir?“, ärgerte sich Völkers. Holzmann und er hatten zusammen studiert und gemeinsam an der Schule ihr Referendariat absolviert. Während Holzmann die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte Völkers sich immer verweigert. Er wollte unterrichten, nicht verwalten, so sah er es jedenfalls. Seine Exfrau war anderer Ansicht. „Peter, du machst einfach nichts aus dir. Warum bemühst du dich nicht um eine Beförderung? Dann kannst du selbst mehr Einfluss nehmen“, hatte sie ihm immer wieder entgegengehalten, wenn er über Holzmann schimpfte. Manchmal nannte sie ihn sogar einen Feigling, der sich einfach nicht traute, sich einem Bewerbungsverfahren zu stellen. „Ich habe keine Angst, ich will einfach nicht. Was hat Holzmann denn aus der Schule gemacht?“, hatte er dann geschrien. „Schule ist doch längst zu einer schlecht laufenden Bildungsfabrik geworden. Mit Pädagogik hat das alles nichts mehr zu tun, Holzmann hat die Schule einfach verraten!“ Walter Holzmann und Peter Völkers waren seit ewigen Zeiten befreundet, doch mit den Worten „Von jetzt an werde ich dich wieder siezen“ hatte er ihm vor einigen Jahren die Freundschaft gekündigt.
Er nahm das Schreiben entgegen, ein weißer Umschlag, offenbar von der Landesschulbehörde. Ob Holzmann es doch geschafft hatte ihn loszuwerden? In Gegenwart seines Chefs wollte er ihn aber lieber nicht öffnen und steckte den Brief in seine Schultasche. „Werde kommen!“, presste er hervor und erhob sich von seinem Platz. Die 10b wartete, eine Klasse, die er leidenschaftlich ablehnte, ja beinahe hasste. Pädagogisch zwar kein sehr korrektes Gefühl, aber ihm tat es gut. Er genoss seinen Hass sogar und genoss es, ihn zu genießen. Sicher hatte der Brief damit zu tun, denn es gab immer wieder Beschwerden von Eltern, die der Ansicht waren, er verlange zu viel und behandle seine Schüler ungerecht.
Völkers ergriff seine Tasche und machte sich auf den Weg. Wie ein Wolfsrudel lungerten die Jugendlichen vor der verschlossenen Tür des Unterrichtsraumes, sie hofften auf Beute, doch heute würden sie sich wundern. „Darf ich mal!“ Ruppig, aber nicht zu ruppig, bahnte er sich seinen Weg durch die Gruppe dampfender Leiber. Sie kamen vom Sport. Warum hatte immer er nach Sport bei ihnen Unterricht? Darüber musste er unbedingt mit dem Stundenplaner sprechen. Der Deo-Gestank war unerträglich, süßlich, irgendwie billig, ein olfaktorischer Frontalangriff auf seine Nase.
Die Schüler lümmelten sich hinter ihre Tische, während er seine Tasche auspackte. Rückgabe der Klassenarbeit, Werte und Normen, schlecht wie immer. Ein vielstimmiger Chor des Entsetzens, als er ihre geistigen Ergüsse auf sein Pult knallte. Oder war es eher geistiger Ausfluss? Ihm war es gleich. Sollte er zuerst den Brief von Holzmann lesen? Einen Moment zögerte er. Vielleicht würde er vor der Klasse die Fassung verlieren, das wollte er auf keinen Fall riskieren. Lieber gab er seinen Schülern zuerst die Arbeit zurück. Warum sollten sie sich nicht gruseln, das hatte er bei der Korrektur auch gemusst. Er lief durch die Reihen und warf ihnen die Hefte auf die Tische. Staub wirbelte auf, wenn sie im Licht der fahlen Morgensonne mit sattem Geräusch aufprallten. „Niklas, fünf, mit einem Minuszeichen von hier bis auf die Zugspitze.“ Wohlig registrierte er tief in seinem Inneren Genugtuung. Schon immer war er der Ansicht, dass es auch in Werte und Normen Fünfen geben müsse. Natürlich verteilte er Einsen, aber eben auch Fünfen, er hatte keine Skrupel, jemandem wegen Werte und Normen die Versetzung zu versauen. Schon gar nicht diesem Niklas, dessen Schrift eine Zumutung war. Die Korrektur seiner Arbeit hatte ihn fast so viel Zeit gekostet wie die der Klausuren fünf anderer Schüler. Was er entziffern konnte, und neben Niklas stehend gönnte er sich in Gedanken, nur in Gedanken, diesen Ausdruck, war nichts anderes als „gequirlte Scheiße“.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Jetzt noch die mündliche Bewertung, auch hier würden sie sich wundern. Er gab Noten bekannt, er diskutierte nicht. Während er seinen Lehrerkalender aufschlug – ja, er hatte noch einen normalen Lehrerkalender und kein Tablet mit Excel-Tabellen - fiel ihm wieder der Brief ein. Öffnen? Nicht öffnen? Wie ein Automat trug er die Noten vor, regungslos entschied er über Leben oder Untergang. „Sollen sie jammern“, dachte er, „sie haben es sich redlich verdient.“ Zugleich verspürte er eine rasende Wut auf seinen Chef. Völkers war ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, gleich würde Holzmann es zu spüren bekommen. Wozu den Brief lesen? Ihm war vollkommen klar, worum es ging. „Aber nicht mit mir“, wütete es in ihm, „nicht mit mir!“
Die weitere Schulstunde verging wie im Fluge, zufrieden stellte er fest, dass seine Schüler schockiert waren. Endlich hörten sie mal zu, deshalb beschloss er, einen Vortrag zu halten. Er sprach über die Theologie der Lebensfülle, die Sehnsucht nach dem Guten, Wahren und Schönen und kritisierte leidenschaftlich den Homo Oeconomicus, eines seiner Lieblingsthemen, auch wenn es hier natürlich nicht um Religion ging. „Es reicht einfach nicht“, führte er warnend aus, „den Menschen nur als seinen persönlichen Nutzen mehrendes Individuum zu betrachten!“ Er redete sich in Rage, zugleich in Begeisterung. So musste Unterricht sein, ohne methodischen Firlefanz, geradeaus eben. Er liebte es, Schüler direkt mit der Fülle seiner Bildung zu konfrontieren. Den methodischen Schnickschnack, der inzwischen Mode an den Schulen geworden war, verabscheute er. Lernspirale, Schnelllesemethode, Gruppenarbeit, das Gelesene erneut austauschen, den Klassenraum mit Kärtchen und Plakaten füllen, nein zumüllen, überall bunte Farben und Bilder und am Ende in den Köpfen der Schüler nichts als gähnende Leere. Er hatte es satt, sie durch die PowerPoint – Präsentationen hampeln zu sehen, Zeuge haltlos ins Bild taumelnder Wörter und Buchstaben sein zu müssen, die beinahe symbolisch den Geisteszustand ihrer Autoren repräsentierten. Nicht selten kreischten oder quietschten die alphabetischen Zeichen, wenn sie mit einem Mausklick zum Auftritt befohlen wurden, um sich schließlich bestenfalls zu Halbwissen, häufiger noch zu unglaublichem Unsinn zusammenzufügen. Da er mit der Kritik am Homo Oeconomicus nun schon mal grundsätzlich geworden war, ließ er sich auch noch über die Schule aus. „Man muss endlich mit dem Missverständnis aufräumen, sie sei umso besser, je mehr Computer oder Active-Boards sie ihr Eigen nennt“, dozierte er kraftvoll. „Nicht der ist gebildet, der die Computer dieser Welt bedienen kann, sondern derjenige, der eigenständig denken kann!“
Erst die zunehmende Unruhe im Klassenzimmer ließ ihn spüren, dass die Stunde vorbei sein musste, das Klingeln hatte er einfach überhört. Abrupt brach er ab und ließ sich auf den Stuhl hinter dem Pult sinken. Während er seinen Schülern beim Verlassen des Raumes zusah, spürte er Erschöpfung. Hatte er sie erreicht? Er wusste es nicht, denn in ihre Köpfe konnte er schließlich nicht hineinsehen. Er packte seine Tasche, achtlos warf er den Brief hinein und beschloss, Holzmanns Aufforderung, in dessen Büro zu kommen, einfach zu ignorieren. Als hätte er mit der inneren Wut schon genügend Dampf aus dem Kessel gelassen, spürte er fast ein wenig Gelassenheit. Für heute war es seine letzte Stunde, er verließ wie immer grußlos das Gebäude. Am Fahrradständer schloss er sein Rad auf. Als er aufstieg, spürte er erneut, wie schwer es ihm inzwischen fiel. Er hörte schlechter, sein Rücken machte Probleme, und er war sarkastisch geworden, jawohl sarkastisch. Aber wie sollte man sonst den Alltag überstehen?
Als er Zuhause die Tür öffnete, hatte er den Brief schon fast vergessen, sein Körper gierte trotz der frühen Stunde bereits nach Erholung. Es ging nichts über ein anständiges Lehrerkoma. Und danach in den Garten, sein Ein und Alles, die Pflanzen brauchten seine ganze Aufmerksamkeit. Während des Mittagsschlafes träumte er, seine Schule sei in ein privates Bildungsunternehmen umgewandelt worden und habe profitable Zahlen zu erwirtschaften. Gelänge das nicht, werde sie geschlossen. Holzmann verlangte von ihm bessere Abschlüsse, er müsse Evaluation betreiben, Lernprozesse nur noch moderieren, nicht mehr im klassischen Sinne unterrichten. Und er? Er schmiss einfach hin. „Zum Moderator bin ich nicht geschaffen!“, brüllte er Holzmann an. „Das ist dir doch wie auf den Leib geschrieben, du bist doch nichts anderes als eine männliche Wissenshure. Wirklicher Bildung bist du überhaupt nicht zugänglich, du Scheißkerl, du wirfst dich doch jedem neuen Trend an den Hals, nur um bessere Zahlen zu haben!“
Dann wurde er wach. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass der Traum ihn nicht mal erschreckt hatte, im Gegenteil, er spürte ein Gefühl der Erleichterung. Sich noch einmal streckend, erhob er sich von der Couch, öffnete ächzend die große Schiebetür zur Terrasse und betrat seinen Garten. Den Brief ließ er weiter ungeöffnet in seiner Tasche. Versonnen stand er vor dem alten Apfelbaum, der eine wunderbare Symbiose mit der Rambler-Rose eingegangen war. Schon jetzt freute er sich darauf, zur Blüte eine Flasche Riesling zu öffnen. Langsam, ganz langsam würde er sich unter dem Baum und der sich lustvoll um ihn windenden Ranke betrinken. Beinahe beneidete er die Pflanzen ob ihrer gegenseitigen Nähe. Liebevoll betrachtete er die kleine Sitzgruppe, ein Naturholztisch und zwei Korbstühle. Das Material war längst ergraut, sommers wie winters der Witterung ausgesetzt, aber dennoch trotzten die Möbel den Kräften der Natur. Bei ihm war der Trotz hingegen nahezu aufgebraucht. Die Metamorphose der Schule hatte ihm jede Motivation geraubt und bei ihm nicht nur äußere Spuren hinterlassen. Sein Feuer war erloschen. Dabei hatte er für den Lehrerberuf mal gebrannt.
Spät abends setzte er sich wieder ans Korrigieren, diesmal die Deutscharbeit der fünften Klasse. Ein Glas Cognac gab ihm Halt, fast heiter schlug er das erste Heft auf. Sophie, sie schrieb Seite um Seite, Buchstabe um Buchstabe, absurd groß malend, alle fielen sie ein bisschen nach links und zwischen jeden Absatz hatte sie ein buntes, kitschiges Herz gemalt. Was er las, war flach. Schon nach den ersten Zeilen wusste er, eine Fünf, trotz der Herzchen. Nachdem er einige Aufsätze bearbeitet hatte, erwog er für einen Moment seine Mutter anzurufen, aber sie würde doch nur nach seiner Ex fragen. Das wollte er sich nicht schon wieder antun, lieber weiterkorrigieren. Als er das nächste Heft durchsah und ihn das tintenfleckgesprenkelte Gekritzel von Dennis entgegensprang, verging ihm jedoch die Lust. Lieber gönnte er sich einen weiteren Cognac, diesmal den guten. Er hatte ihn gekauft, nachdem seine Frau endlich ausgezogen war. Als er die Flasche aus dem Schrank holte, war er überrascht, wie wenig von dem edlen Tropfen noch übrig war. Dennoch goss er sich ein Glas ein. Den ersten Schluck wusste er zu zelebrieren, eine Weile behielt er ihn im Mund, spürte das würzig-fruchtige Aroma. Dann trank er schneller, goss noch einmal nach und noch einmal. Jetzt war nicht mehr der Geschmack entscheidend, ihm ging es um die Wirkung des Alkohols. Schnell breitete sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper aus, das Denken fiel ihm schwerer. Sein Blick streifte seine Tasche, die er nach der Schule neben seinen Schreibtisch hatte fallen lassen. Ach ja, der Brief. Mit einer Mischung aus Verachtung und ängstlicher Neugierde fingerte er nach dem Umschlag. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es doch kein offizieller Umschlag war, also kein Schreiben der Landesschulbehörde. Er riss ihn auf, las - und traute seinen Augen nicht. Es waren persönliche Zeilen von Holzmann. Noch einmal überflog er die krakelige Schrift seines Chefs. „Lieber Peter“, schrieb der, „wie lange kennen wir uns eigentlich? Nach meiner Rechnung schon mehr als dreißig Jahre. Es schmerzt mich, dass unsere Freundschaft durch die Schule so gelitten hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns das nicht länger bieten lassen sollten, so gerne würde ich mich mit dir wieder versöhnen. Wie wäre es, wenn wir zusammen essen gingen? Wann hast du Zeit? Dann können wir in Ruhe alles besprechen.“ Vorsichtig legte er den Brief auf seinen Schreibtisch. Wurde Holzmann jetzt sentimental? War das ein Trick, um ihn endgültig loszuwerden? Er wusste es nicht. Es war zu spät, ihn noch anzurufen. Lieber nahm er einen letzten Schluck aus der fast völlig geleerten Cognacflasche.
Am nächsten Morgen vermochte er sich im Spiegel kaum zu erkennen, daran änderten auch Dusche und Rasur nicht viel. Er kochte sich einen Kaffee und nahm eine Tablette gegen den Kopfschmerz, irgendwie musste er sich in Form bringen. Im Wohnzimmer schlug sanft die alte Standuhr. Vor Jahren hatte er sie gegen den Widerstand seiner Frau auf einem Flohmarkt erstanden. Schon halb acht, es wurde Zeit. Welche Stunden hatte er heute? Zwei Mal Deutsch und vier Stunden Geschichte. Schnell die Tasche packen, den Schlips gerade rücken und aufs Rad.